Unser Wille wird entscheidend ausdifferenziert im Alter von ca. 7 bis 10 (+/-) Jahren – besagt etwa die humanistisch-wachstumsorientierte Perspektive in der systemischen Therapie.
Was mir bei dieser Zuordnung auffällt, ist die zeitliche Überlappung mit der Freud’schen, so genannten „Latenzphase“. Hier differenziert sich demnach das Über-ich aus. Also unser Gewissen, aber auch die sozialen Gefühle wie Scham, Einfühlungsvermögen, etc.
Zu diesem Zeitpunkt wird dem Kind auch klar, „was cool ist, und was nicht“ (sprich: was im Sozialverbund einer Gruppe vermeintlich angenommen und wertgeschätzt wird). Denn in dieser Phase bildet sich unser „Gruppen-Ich-Ideal“ und fließt ins Selbstkonzept ein.
Und das würde bedeuten, etwas vereinfacht: Wer als Kind vermeintlich „gefördert“ wird in der eigenen Willensfindung, entwickelt tendenziell für sich als Leitfrage eher ein „Was will ich?“. Wer hier durch Eltern, Geschwister, Erzieher und weitere Umwelten (psychoedukativ) hingegen auf ‚Rücksicht‘, ‚Verantwortung‘ oder den „Willen der Anderen“ hingewiesen wird, der entwickelt für sich tendenziell ein „Was darf / sollte / müsste ich?“. Das sind im übrigen durchaus wichtige, inhaltliche Instanzen, wenn ich das mal anmerken darf.
So weit, so interessant. Entscheidend ist nun, ob das Kind des zweiten Typs (Was darf/sollte/müsste ich?) von dieser reaktiven Haltung zurück in eine selbststeuernde Haltung gelangt. Oder in eine trotzige, unkooperative Gegenhaltung, etc. Und ich sage „zurück“, weil hier ein ganz wichtiger Aspekt auftaucht:
Unser Wille
Unser Wille wird natürlich nicht zwischen 7 und 10 gebildet – er wird hier lediglich geprägt in dem Sinne, dass ab dieser Zeit es beim Kind anders verarbeitet wird, wenn er enttäuscht (nicht gefördert) wird. Der Wille ist in anderer Form ja bereits viel früher, schon vor unserer Geburt spürbar, jede Mutter weiß das. Doch es ist irgendwie anders mit dem Willen. Hier beginnt eine Geschichte schier unzähliger Entbehrungen und, ja, Frustrationen für die entstehende, menschliche Existenz.
Ein Prozess von Geburt an
Ein Baby kommt voller Vertrauen auf die Welt – das geht auch gar nicht anders, es ist ja vollkommen auf Andere angewiesen. Ich möchte nur auf einen Aspekt als Beispiel zu sprechen kommen: die Nahrungsaufnahme. Noch bevor das Kind das (klassische) „Ich“-Bewusstsein entwickelt hat, ist es in den Prozess einer Unterscheidung (unbewusst) zwischen Ich und Außenwelt involviert: Die Nahrung wird aufgenommen, kommt also von außen. Je jünger der Säugling, desto „ähnlicher“ muss die Nahrung nun dem bisher bekannten, Assimilierbaren sein (ein erster Schock war ja diesbezüglich schon das Trennen von der Nabelschnur). Je unterschiedlicher Nahrung ab jetzt wird, desto mehr muss sie wieder ähnlicher gemacht werden (von Muttermilch zu Brei, später dem Zerkauen zu Brei).
Hier ist also die ganze Zeit bereits ein Anpassungsprozess im Gange – und das Bekannte (das Gewollte) weicht immer wieder etwas Neuartigem und Fremden. Was jedes Mal im Ansatz eine Frustration bedeutet, aber auch den eigenen Willen triggert. Jeder, der schon mal gefüttert hat, kennt es: Entweder, das Kind nimmt die Nahrung, die ihm angeboten wird, spontan an oder spuckt sie aus (Reflex: es könnte schädlich sein. Später wird dies bei Kindern zu „Ekel“ als ähnlicher Schutzreflex, z.B. vor Rosenkohl, Spinat & Co).
Jede Veränderung ist zuerst Frustration
Das Vertrauen in die Umgebung und eigene Umwelt, und der Wille, den Hunger mit Vertrautem gestillt zu bekommen, wird mit jeder Veränderung enttäuscht. Wichtig ist natürlich der Kontakt zur Umgebung und zu den (Bezugs)Personen. Das emotional-intuitive Einschwingen der Eltern. Ist Vertrauen da, wird das angereichte Fremdmaterial eher zur Nahrung erklärt (ist keine Gefahr mehr) und wird aufnehmbar.
Jetzt muss ich Ihnen nicht erzählen, wie Fütterungen so ablaufen können, und zwar für alle Beteiligten. Ich will aus Sicht des Kindes nur sagen: Die Willensbildung läuft als lernendes Programm die ganze Zeit der Entwicklung hindurch mit. Und auch wenn zu Beginn die meisten, erlebten Frustrationen vergessen werden (glaubt man zumindest bis heute), so geht diese Schule der „Behauptung des eigenen Willens gegen die permanente Veränderung von Außen“ weiter.
Denken sie mal an die kleine Schnullerbacke, vielleicht im Alter von zwei, die plötzlich zum ersten mal „Nein“ sagt. Wo auch immer sie das her hat! Und dann immer öfter: „Nein,…“ Weiß dieser kleine Pups überhaupt, wovon er da redet? (Das „Ich“ differenziert sich gerade aus)…
Prägung
Ich erspare Ihnen eine kleinschrittige Entwicklungsgeschichte. Was ich sagen möchte: In unserer Entwicklung wird unser eigener Wille andauernd enttäuscht oder gebrochen, und dennoch haben wir ihn. Die Altersgrenze von 7 bis 10 kann als der Zeitraum gelten, ab welchem unser Wille eine neue Instanz darstellt. Und ab da wird es anders verarbeitet (und für die Eltern deutlich „schwieriger“ in der Erziehung), wenn der Kindeswille nicht erhört (oder auch gefördert und motiviert) wird. Prägen tut bereits unser ganzes Leben, bis zu diesem enorm hohen Alter von 7, unseren Willen… Papa und Mama sind einfach manchmal doof. 🙂